Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
es ist ein Trend, der sich schleichend vollzieht, aber dessen Tragweite kaum zu überschätzen ist. Während die europäische Politik von der Stärkung des Kapitalmarkts spricht und Initiativen zur Kapitalmarktunion plant, stimmen die Konzerne mit den Füßen ab. Ihr Ziel: die Vereinigten Staaten. Doch die jüngsten Schritte zweier europäischer Schwergewichte zeigen, dass dieser Exodus radikaler ist als bisher gedacht.
AstraZeneca und TotalEnergies haben angekündigt, ihre bestehenden amerikanischen Börsennotierungen grundlegend zu ändern. Was auf den ersten Blick wie eine technische Anpassung klingt, könnte weitreichende Folgen für Europas Finanzplätze haben. Denn beide Unternehmen wollen nicht länger über sogenannte American Depositary Receipts in den USA gehandelt werden, sondern mit vollwertigen Aktien. Der Teufel steckt im Detail, und die Details offenbaren eine bemerkenswerte Entwicklung.
Die ADR-Frage: Von der Krücke zur Fessel
American Depositary Receipts sind eine Art handelbare rechtliche Hülle für nicht-amerikanische Aktien. Die zugrunde liegende Aktie wird von einem Finanzinstitut wie der Bank of New York Mellon verwahrt, während Anleger in den USA mit den ADRs handeln können. Der Vorteil liegt auf der Hand: ADRs vereinfachen für US-Investoren den Handel mit ausländischen Unternehmen erheblich und verschaffen diesen Konzernen einfachen Zugang zur amerikanischen Nachfrage.
Doch was einst als elegante Lösung galt, wird zunehmend als Einschränkung empfunden. Der Wechsel zu normalen Aktien bedeutet, sich mit jenen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, die ADRs umgehen. AstraZeneca und TotalEnergies nehmen diese Hürden bewusst in Kauf. Die Frage ist: Warum?
AstraZenecas revolutionärer Schritt
Der britische Pharmakonzern geht einen besonders interessanten Weg. Mit der vollständigen US-Notierung wechselt die Abwicklung des Aktienhandels zur US Depository Trust Company. Da AstraZeneca gleichzeitig die Notierung in London beibehält, müssen die britischen Aktien nun technische und regulatorische Beschränkungen berücksichtigen. Die Lösung: Die Londoner Aktien werden in eine rechtliche Struktur namens Depositary Interest verpackt, die von der britischen Stempelsteuer befreit ist.
AstraZeneca ist nicht das erste in London notierte Unternehmen, das auf Depositary Interests umstellt. Aber es ist das erste Mal, dass ein Unternehmen dieser Größenordnung quasi über Nacht steuerfrei wird, während es im FTSE 100 Index verbleibt. Wir werden also Zeuge eines kontrollierten Experiments zur Abschaffung der umstrittenen britischen Handelsabgabe.
Noch bemerkenswerter ist eine andere Botschaft von AstraZeneca: Es kann sich lohnen, eine vollwertige US-Notierung anzustreben, auch wenn dies nicht die Aufnahme in den S&P 500 Index bedeutet. Dieser Aspekt ist revolutionär, denn bisher war die Mitgliedschaft im prestigeträchtigen amerikanischen Leitindex das erklärte Ziel europäischer Unternehmen, die in die USA migrierten.
Der steinige Weg in den S&P 500
Der Zugang zum S&P 500 ist alles andere als einfach. Die Kriterien umfassen verschiedene amerikanisch geprägte Anforderungen, und die endgültige Entscheidung trifft ein Komitee. In der Hoffnung auf eine Aufnahme haben frühere Unternehmensmigranten entweder ihren Sitz verlegt oder operative Hauptquartiere in den USA geschaffen, während sie gleichzeitig ihren britischen Notierungsstatus herabstuften und den FTSE 100 verließen.
AstraZeneca macht sich diese Mühe nicht. Das Unternehmen wird also nicht zu einer verwaisten Indexaktie im Niemandsland zwischen zwei großen Benchmarks. Vielleicht schlägt die hundertprozentige Sicherheit der FTSE-100-Mitgliedschaft die schwer einschätzbare Möglichkeit einer S&P-500-Aufnahme. Für Großbritannien bleibt zu hoffen, dass sich der Unterschied zwischen dem Handel in New York und London nicht durch aktive, engagierte Investoren im Ausland und gesichtslose passive Ströme im Inland auszeichnet.
Sollten Anleger sofort verkaufen? Oder lohnt sich doch der Einstieg bei TotalEnergies SE?
TotalEnergies wählt einen anderen Pfad
Der französische Ölkonzern TotalEnergies könnte möglicherweise die Notwendigkeit einer Depositary-Interest-Struktur umgehen. Das Unternehmen hat erklärt, dass die Umwandlung seiner ADRs keine Auswirkungen auf die bestehenden Pariser Aktionäre haben wird. Dies deutet darauf hin, dass TotalEnergies einen Weg gefunden hat, einen nahtlosen Aktienhandel auf beiden Seiten des Atlantiks zu ermöglichen. Die Details müssen noch bekannt gegeben werden.
Man sieht normalerweise keine französischen Unternehmen, die auf Euronext notiert sind und deren normale Aktien parallel in den USA gehandelt werden. Die Komplexität globaler Clearing- und Abwicklungsregeln sowie Unterschiede zwischen der britischen und französischen Marktinfrastruktur erklären vermutlich, warum dies tatsächlich möglich sein könnte. Doch auch dieser Ansatz erscheint bahnbrechend. Spannende Zeiten für Kapitalmarktanwälte.
Die Implikationen für ADRs und Bewertungen
Diese Entwicklungen haben Konsequenzen für das gesamte ADR-System. Die Vorteile von ADRs gehen mit zusätzlichen Kosten für Investoren einher, auch wenn diese wahrscheinlich nur ein untergeordneter Faktor bei Anlageentscheidungen sind. Unternehmen bevorzugen grundsätzlich vollwertige US-Aktien, wo immer dies möglich ist. Alle Marktteilnehmer werden genau beobachten, ob die Umwandlung dieser prominenten ADRs einen spürbaren Unterschied bei den US-Handelsvolumina und Kurs-Gewinn-Verhältnissen bewirkt.
AstraZeneca ist bereits hoch bewertet. Der konkreteste Vorteil liegt in einer stärkeren Währung für Übernahmen und Kapitalbeschaffung. TotalEnergies hingegen wird mit einem bemerkenswerten Abschlag zu amerikanischen Wettbewerbern gehandelt, sodass der Druck auf die ADR-Umwandlung größer ist, diese Bewertung anzuheben. Das Unternehmen strebt auch keine S&P-500-Mitgliedschaft an.
Großbritanniens Steuerproblem
Im Gegensatz zu TotalEnergies ist AstraZenecas Schritt Teil eines deutlichen Trends auf dem britischen Heimatmarkt. Das Unternehmen hat offengelegt, wie die britische Steuerpolitik in London notierte Unternehmen dazu anregt, in die USA zu gehen. Eine grundlegende Überprüfung ist in Großbritannien dringend erforderlich. Ein Großteil des Handels mit britischen Aktien hat sich bereits auf stempelsteuerbefreite Methoden wie Differenzkontrakte verlagert. Es gibt keine Stempelsteuer auf Unternehmensanleihen oder den Krypto-Handel. Sie auf Aktien zu erheben, erhöht lediglich die Kapitalkosten von Unternehmen, deren Investitionstätigkeit tatsächlich das Wirtschaftswachstum ankurbeln kann.
Europa verliert den Anschluss
Der europäische Unternehmenssektor zeigt beachtliche Innovationskraft bei dem Versuch, die Vorteile der tiefen amerikanischen Kapitalmärkte zu nutzen. Wenn die europäischen Behörden doch nur ähnlichen Erfindungsreichtum beim Halten der Unternehmen im eigenen Markt zeigen würden. Doch die Realität sieht anders aus. Während die Politik noch debattiert, handeln die Konzerne.
Die USA bieten nicht nur tiefere Kapitalmärkte und höhere Bewertungen, sondern auch eine stärkere Aktionärskultur und größere institutionelle Investorenbasis. Für europäische Unternehmen, die global wachsen wollen, wird der amerikanische Kapitalmarkt zunehmend unverzichtbar. Die Frage ist nicht mehr, ob europäische Konzerne eine US-Präsenz brauchen, sondern wie umfassend diese sein sollte.
Ein Weckruf für den alten Kontinent
Die Schritte von AstraZeneca und TotalEnergies markieren einen Wendepunkt. Zwei europäische Konzerne ebnen mit radikalen Maßnahmen den Weg in die USA und überwinden dabei technische und regulatorische Barrieren, die bisher als unüberwindbar galten. Die Anziehungskraft amerikanischer Kapitalmärkte ist so groß geworden, dass Unternehmen bereit sind, komplexe rechtliche Konstruktionen in Kauf zu nehmen.
Für Europa bedeutet dies mehr als nur den Verlust zweier Börsenschwergewichte. Es offenbart ein strukturelles Problem. Solange der Kontinent es nicht schafft, wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen, wird der stille Exodus weitergehen. Die Unternehmen haben bereits entschieden. Nun liegt es an der Politik, aufzuholen. Die Zeit drängt, denn was heute als Ausnahme erscheint, könnte morgen zur Regel werden.
TotalEnergies SE-Aktie: Kaufen oder verkaufen?! Neue TotalEnergies SE-Analyse vom 10. Oktober liefert die Antwort:
Die neusten TotalEnergies SE-Zahlen sprechen eine klare Sprache: Dringender Handlungsbedarf für TotalEnergies SE-Aktionäre. Lohnt sich ein Einstieg oder sollten Sie lieber verkaufen? In der aktuellen Gratis-Analyse vom 10. Oktober erfahren Sie was jetzt zu tun ist.
TotalEnergies SE: Kaufen oder verkaufen? Hier weiterlesen...