Die globalen Finanzmärkte stehen vor einer Wende. Nach monatelangen Zinssenkungen ziehen führende Notenbanken plötzlich die Bremse – und signalisieren sogar mögliche Zinserhöhungen. Der Grund: hartnäckige Inflation, die trotz restriktiver Politik nicht verschwinden will. Während die Wall Street von sanften US-Inflationsdaten profitiert, warnen Zentralbanker in Europa, Australien und Lateinamerika vor voreiligen Erwartungen. Was bedeutet dieser Kurswechsel für Anleger?
Überraschung in den USA: Inflation schwächer als erwartet
Die US-Verbraucherpreise stiegen im November auf Jahressicht nur um 2,7 Prozent – deutlich unter den erwarteten 3,1 Prozent. Doch die Freude darüber bleibt gedämpft. Ein 43-tägiger Regierungsstillstand verhinderte die Datenerhebung für Oktober, weshalb das Bureau of Labor Statistics erstmals keine monatlichen Veränderungsraten veröffentlichen konnte. „Der fehlende Detailgrad und die Datenlücke durch den Shutdown führen zu erheblicher Skepsis“, warnt Olu Sonola von Fitch Ratings.
Ökonomen vermuten, dass die niedrigeren Werte technischer Natur sind: Die verzögerte Datensammlung fiel in die Zeit der Weihnachtsrabatte, als Händler aggressive Preisnachlässe gewährten. Analysten erwarten bereits für Dezember einen Anstieg – befeuert durch Präsident Donald Trumps umfassende Importzölle, die nach Einschätzung von Pantheon Macroeconomics mittlerweile zu etwa 40 Prozent an Verbraucher weitergegeben werden. Diese Quote könnte bis März auf 70 Prozent klettern.
Die Wall Street reagierte dennoch euphorisch: Der S&P 500 legte um 0,78 Prozent auf 6.773,91 Punkte zu, der Nasdaq schoss um 1,37 Prozent nach oben. Technologiewerte profitierten besonders, angeführt von Micron Technology, dessen KI-getriebene Umsatzprognose die Erwartungen fast verdoppelte.
Fed-Chef Powell: „Es sind die Zölle, die Inflation verursachen“
Die Federal Reserve hat ihre Leitzinsen zuletzt um 25 Basispunkte auf 3,50 bis 3,75 Prozent gesenkt, signalisierte aber unmittelbar danach einen Kurswechsel. Fed-Chef Jerome Powell machte in seiner Pressekonferenz deutlich: „Es sind wirklich die Zölle, die den größten Teil der Inflationsüberschreitung verursachen.“ Händler sehen nur noch eine 58-prozentige Wahrscheinlichkeit für eine weitere Zinssenkung im März.
Die Arbeitsmarktdaten bleiben widersprüchlich. Die Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe fielen auf 224.000 – ein Zeichen für Stabilität. Doch die Arbeitslosenquote stieg im November auf 4,6 Prozent, den höchsten Stand seit September 2021. Trumps Handelspolitik belastet die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen massiv. Eine Umfrage unter 548 Finanzchefs ergab, dass Zölle nach wie vor ihre größte Sorge darstellen.
Europäische Zentralbank: Pausentaste gedrückt
Die Europäische Zentralbank hat ihre Zinsen seit Juni konstant bei 2 Prozent gehalten und ließ durchblicken, dass die Lockerungsphase vorerst beendet ist. Trotz verbesserter Wachstums- und Inflationsprognosen vermied EZB-Präsidentin Christine Lagarde jegliche Forward Guidance. Die Händler bleiben skeptisch und wagen keine starken Wetten auf Zinserhöhungen.
Ähnlich zurückhaltend gibt sich die Bank of England. Sie senkte die Zinsen zwar auf 3,75 Prozent, doch die Entscheidung fiel denkbar knapp aus. Gouverneur Andrew Bailey erwartet, dass die britische Inflation bis April oder Mai auf das 2-Prozent-Ziel zurückkehrt – ein Jahr früher als zuvor prognostiziert. Dennoch warnte er: „Die Entscheidungen werden enger, und ich erwarte, dass sich das Tempo der Zinssenkungen verlangsamt.“
Australien könnte als erste Zinserhöhung vornehmen
Die Reserve Bank of Australia positioniert sich am aggressivsten. Sie hielt die Zinsen bei 3,6 Prozent stabil und stellte klar: Der nächste Schritt könnte nach oben gehen. Diese Warnung verlieh dem australischen Dollar Auftrieb und belastete Staatsanleihen. Die Märkte preisen mittlerweile eine Zinserhöhung bis Juni 2026 vollständig ein, mit guten Chancen bereits im Mai.
Brasilien steht vor einer ähnlichen Herausforderung. Die Zentralbank hält die Zinsen auf dem höchsten Niveau seit fast zwei Jahrzehnten bei 15 Prozent. Präsident Gabriel Galipolo betonte einen strikt datenabhängigen Ansatz und ließ alle Optionen offen. Präsident Lula da Silva äußerte sich optimistisch: „So wie wir Regen riechen können, spüre ich, dass die Zinsen bald sinken werden.“ Doch die meisten Ökonomen erwarten erst im März eine Lockerung.
Mexiko senkt trotz steigender Inflationsrisiken
Die Bank of Mexico reduzierte ihren Leitzins erwartungsgemäß um 25 Basispunkte auf 7,0 Prozent – den niedrigsten Stand seit April 2022. Die Entscheidung war gespalten: Vizegouverneur Jonathan Heath stimmte bereits zum fünften Mal in Folge gegen eine Senkung. Die Kerninflation beschleunigte sich im November von 4,28 auf 4,43 Prozent.
Die Bank hob ihre Inflationsprognosen für das vierte Quartal 2025 und die ersten beiden Quartale 2026 an, vor allem wegen hartnäckiger Dienstleistungsinflation. Trotzdem erwartet Banxico, dass die Gesamtinflation bis zum dritten Quartal 2026 das 3-Prozent-Ziel erreicht. Analysten sind gespalten: Die Hälfte rechnet mit weiteren Zinssenkungen bis Ende März, die andere mit einer Pause.
Politischer Druck in Brasilien wächst
Brasiliens Finanzminister Fernando Haddad bekräftigte, dass er nicht für ein öffentliches Amt im kommenden Jahr kandidieren werde, obwohl Präsident Lula eine Kandidatur begrüßen würde. Haddad deutete an, dass er im Februar zurücktreten könnte, um Lulas Wahlkampf 2026 zu unterstützen – ein Schritt, der mit dem Finanzministerposten unvereinbar sei.
Unabhängig vom Wahlausgang betonte Haddad, dass die fiskalischen Herausforderungen bestehen bleiben und weitere Reformen erfordern. Er bevorzugt den aktuellen Haushaltsrahmen, der Primärziele mit Ausgabenwachstumsgrenzen kombiniert, aber bei Bedarf eine strengere Haushaltsverwaltung ermöglicht.
Was Anleger jetzt wissen müssen
Die Ära ultraniedriger Zinsen ist endgültig vorbei. Zehn große Notenbanken signalisieren Zurückhaltung oder sogar Zinserhöhungen – ein dramatischer Stimmungswandel. Für Anleger bedeutet das: Höhere Finanzierungskosten für Unternehmen, Druck auf Aktienbewertungen und attraktivere Anleiherenditen. Die Schweizer Nationalbank und Kanadas Zentralbank haben bereits signalisiert, dass sie bis 2027 keine weiteren Schritte unternehmen werden.
Die Bank of Japan bleibt die einzige Ausnahme im Aufwärtsmodus und dürfte ihre Zinsen am Freitag auf 0,75 Prozent anheben. Das massive Stimuluspaket von Premierministerin Sanae Takaichi hat die Renditen langfristiger Staatsanleihen explodieren lassen, während der Yen unter Druck gerät. Die globalen Spillover-Effekte sind nicht zu unterschätzen.
Bill Merz von der U.S. Bank warnt: „Wir wollen im nächsten Monat eine Bestätigung sehen, um sicherzustellen, dass der Shutdown nicht zu viel Störgeräusch verursacht hat.“ Bis dahin bleiben die Märkte in der Schwebe – gefangen zwischen Hoffnung auf sinkende Zinsen und der Realität hartnäckiger Inflation.
